28. September – Der Tag, der Stromgeschichte schrieb

Wenn Wirtschaftshistoriker einst analysieren werden, welches die massgeblichen Auslöser für das schweizerische Stromversorgungsgesetz, die Gründung der Swissgrid und auch das rasche Tempo beim Aufbau des Strombinnenmarktes Europa waren, dann werden sie an einem Tag und einer Nacht nicht herumkommen: Dem 28. September 2003. Es war ein schöner, noch recht warmer Samstagabend. In Italien feierte man die „notte bianca“, während in den Schweizer Alpen ein Baum eine ATEL-Hochspannungsleitung berührte und einen Kurzschluss auslöste. Die Leitung fiel aus und der Strom suchte sich andere Wege.
In Laufenburg, bei der damaligen Schweizer Netzkoordinatorin Etrans, erkannten die zuständigen Fachleute zwar das Problem, sie wagten aber nicht abzuregeln, weil sie damit vielleicht die Interessen ihrer Besitzer und Händler ATEL, Axpo etc. tangiert hätten. Pflichtbewusst schickten sie aber einen Fax an ihre Kollegen in Rom, um diese darauf aufmerksam zu machen, dass die Versorgungssicherheit in Italien schon bald beeinträchtigt werden könnte. In Rom aber schaute bei der dortigen Netzleitstelle niemand auf das Faxgerät, und so ging diese Warnung unter. Kurz vor drei Uhr in der Früh herrschte in Italien ein totaler Blackout – la notte bianca mutierte zur notte nera.

Von Schuldzuweisungen zur Einladung zur Zusammenarbeit…
Anschliessend begann – wie so oft – der grosse Schuldzuweisungsreigen. Und schon bald wurden Schadenersatzklagen in unbekannter Höhe in Aussicht gestellt. Analysen und umfassende Studien der zuständigen Fachämter, Fachvereine und Universitäten folgten, welche die Ereignisse dokumentierten, die Ursachen herausschälten und Verbesserungsvorschläge machten. Auch die Politik blieb nicht untätig: In der Schweiz sollte nun ein einziger Übertragungsnetzbetreiber gebildet werden, der unabhängig von den Handelsfirmen die Versorgungssicherheit im Inland garantieren und die technische Koordination mit den europäischen Netzbetreibern sicherstellen sollte. Der zuständige EU-Generaldirektor Lamoureux schrieb dem Bundesrat einen Brief, in dem er festhielt, dass Versorgungssicherheit ein grenzüberschreitendes Thema sei und deshalb Verhandlungen über eine stärkere Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU im Strombereich aufgenommen werden sollten.

Vermehrter Austausch und neue Gesetze
Vorerst einmal etablierten die Übertragungsnetzbetreiber Italiens und der Schweiz einen engeren Austausch, der über das Versenden von Fax-Nachrichten hinausging. Neben dem Einrichten einer telefonischen Hotline wurden gemeinsame Handbücher erstellt und gegenseitige Besuche und Praktikas durchgeführt. Auf nationaler Ebene begannen die Arbeiten für ein Stromversorgungsgesetz, als Teil davon auch die Schaffung einer unabhängigen Übertragungsnetzbetreiberin, der Swissgrid, und die langwierigen Verfahren für den Bau neuer Leitungen hinterfragt. Die Besitzer der Übertragungsnetze hatten den Ehrgeiz, Swissgrid nicht als Kind eines Gesetzesartikels, sondern in eigener Initiative zu gründen: Schon 2005 waren sie soweit. Im Licht dieser Eigeninitiative muteten die später von den Netzeigentümern vor Gericht vorgebrachten Vorwürfe, die seien durch die Gründung von Swissgrid teilweise enteignet worden, schon etwas seltsam an.

Das Stromversorgungsgesetz und die Abnabelung von Swissgrid
Das 2008 in Kraft getretene Stromversorgungsgesetz hielt dann konkret fest, welche Aufgaben die einzelnen Player im Feld haben und welche Rolle der Eidgenössischen Elektrizitätskommission ElCom zukommt. Die Beschleunigung des Netzausbaus konnte als Gesetzesprojekt, der Strategie Stromnetze, zwar erst 2018 abgeschlossen werden, wird aber in den nächsten Jahren ebenfalls zu einer Erhöhung der Versorgungssicherheit beitragen.
Swissgrid hat sich in den vergangenen Jahren von ihren Besitzern freigestrampelt. Vorerst stemmte sich ihr Verwaltungsrat gegen einen Umzug an einen verkehrsgünstigeren Ort, denn das Laufenburger Gebäude wurde von der Besitzerfirma EGL/Axpo gerne vermietet. Zudem fürchteten die CEOs, dass die besten Ingenieure ihrer Stromfirmen in Olten oder Baden zur Swissgrid wechseln könnten.
Am 14. September 2018 hat nun Swissgrid ihr neues Gebäude in Aarau eingeweiht Es widerspiegelt das neue Selbstverständnis unserer Übertragungsnetzbetreiberin: Ein attraktives Kompetenzzentrum in einem architektonisch hervorragend gestalteten Neubau mit umfassenden Sicherheitssystemen und kreativer Arbeitsumgebung und modernsten Unterstützungstools.

Eine Baustelle bleibt
Ein grosser Teil der im Nachgang des Blackouts in Italien aufgegleisten Arbeiten ist nach 15 Jahren erledigt, die neuen Strukturen haben sich meist auch bewährt. Ein Dossier konnte aber noch nicht abgeschlossen werden: Das Stromabkommen mit der EU. Vorerst als rein technische Vereinbarung konzipiert, kamen im Laufe der Zeit, vorallem wegen des raschen Fortschreitens des EU-Strombinnenmarktes, immer mehr Marktfragen dazu. Seit einiger Zeit ist klar, dass das Stromabkommen erst nach einer Einigung beim Rahmenabkommen abgeschlossen werden kann.

Vorerst wehrten sich die Schweizer Stromer gegen einen raschen Abschluss der Verhandlungen. Warum am bestehenden Regime rütteln, das doch lange Zeit viel Geld in die Kassen gespült hatte? Doch inzwischen werden die Nachteile der Nichtintegration in den EU-Strommarkt immer schmerzhafter spürbar und die einst starke Stromdrehscheibe Schweiz verliert an Bedeutung: Schweizer Firmen werden nicht mehr gleichberechtigt zu allen Handelsplattformen zugelassen. Die Historiker werden im Rückblick dereinst beurteilen können, ob die ursprüngliche Verzögerungstaktik der Schweizer Stromwirtschaft wirklich eine so gute Idee war.

28. September 2018: wiederum ein historischer Tag
Das Rücktrittsschreiben von Doris Leuthard trägt dieses Datum. Sie hat in den letzten acht Jahren viel in Frage gestellt, vorangetrieben, motiviert und der Energiepolitik Schweiz Schub gegeben. Eine Aera geht zu Ende, der Change im Energiesystem Schweiz wie im gesamten Infrastrukturbereich wird mit ihrem Namen verbunden sein. Besten Dank, Doris, Du hast viel erreicht und warst eine erstklassige Chefin.