Rentenalter 65+ – eigentlich nötig, aber kaum umsetzbar

Ich mag mich noch gut erinnern: vor vierzig Jahren wollte ich als junger und kämpferischer Mitarbeiter der Solothurner Kantonalbank in eine richtige Gewerkschaft eintreten. Der Bankpersonalverband schien mir arg bürgerlich, er war auch nicht in den Schweizerischen Gewerkschaftsbund integriert. Deshalb schien es mir nur richtig, in den Verband des Personals Öffentlicher Dienste VPOD einzutreten. In Solothurn war damals Hans Affolter Präsident der Sektion Staatspersonal, sodass ich den Kontakt mit ihm suchte. Hans Affolter war stellvertretender Staatsschreiber und Chefjurist der Regierung, er war auch der Sohn des ersten sozialdemokratischen Regierungsrates im Kanton Solothurn. Aber Hans Affolter war auch ein Mann, der sich zu mindestens 100% für seine Arbeit engagierte und daneben Politik auf kommunaler sowie kantonaler Ebene mit Leidenschaft betrieb.

So suchte ich Hans Affolter in seinem Büro im verwinkelten Rathaus auf und sah ihn hinter seinen Aktenbergen. Er bot mir einen Stuhl an und wir begannen über die kantonale Politik, die Gewerkschaften und deren wichtigste Anliegen zu diskutieren. Hans Affolter, damals 64 und kurz vor seiner Pensionierung stehend, machte sich für eine Erhöhung der Altersgrenze auf weit über 65 Jahre stark und plädierte dafür, man solle so lange arbeiten können wie es einem beliebt. Ich als junger Heisssporn meinte dagegen, das Rentenalter müsse herabgesetzt werden, weil die Leute spätestens mit 60 körperlich ziemlich am Ende seien und deshalb Anspruch auf Rente sowie einen neuen Lebensabschnitt mit Freizeit und Freiheiten hätten. Wir wurden uns klar nicht einig. Er gestand zwar den Bauarbeitern ein tieferes Rentenalter zu, doch alle anderen sollten ihren Abschied aus der Arbeitswelt frei wählen können, er würde jedenfalls gerne bis 70 weiterarbeiten.

Ab dem darauffolgenden Jahr habe ich Hans Affolter dann oft in der Stadt gesehen, weil er seine Arbeit abgeben und ins Rentenalter wechseln musste. Er war damals Junggeselle, hatte neben der Politik nur wenige Hobbies. In der Folge hat er dann Sommer für Sommer in der Badi Solothurn bis ins hohe Alter jeweils den Saisonsieg beim Langstreckenschwimmen errungen.

Heute würde ich Hans Affolter nicht mehr derart vehement widersprechen. Erstens ist aus demographischen und volkswirtschaftlichen Gründen in den nächsten Jahren eine Erhöhung des Rentenalters wohl angezeigt, denn wir leben immer länger – das schüttelt unsere Rentensysteme.

Zweitens sind sehr viele fünfundsechzig Jährige noch motiviert und durchaus auch fähig, gute Leistungen zu erbringen. Ich jedenfalls freue mich, dass ich jetzt einige spannende Mandate bei diversen Firmen sowie Organisationen ausüben darf.

Drittens sehe ich viele pensionierte Alterskollegen, die mir nicht gerade glücklich erscheinen, wenn sie mir von ihren neuen Aufgaben als Verantwortliche für das häusliche Staubsaugen berichten (ich gebe zu, ich habe einen ziemlich intelligenten und fleissigen Roboter-Staubsauger).

Aber gleichzeitig wird auch in künftigen Reformen eine Erhöhung des Rentenalters kaum durchzubringen sein, wenn nicht die Arbeitgeber mit Mitarbeitern 50+ radikal anders umgehen. Zu oft höre ich, dass diesem und jenem Kollegen in der Industrie, in Banken und anderen Dienstleistungsunternehmen gekündigt wurde, weil er primär als teurer Kostenblock wahrgenommen wurde und durch eine jüngere Person ersetzt werden konnte.

Sorry, mit dieser Haltung schafft man nicht nur individuell grosse soziale Probleme und Notlagen sondern schafft auch die Basis für radikalere Forderungen wie die definitive und vollständige Abschaffung der Personenfreizügigkeit. Deshalb ist als Vorbedingung für eine mögliche Erhöhung des Rentenalters nun vorerst mal ein Umdenken bei den Arbeitsgebern angesagt.